Sentimentale Bürokraten. Beschämte Aristokraten – oder: Wer betreibt konzeptuelle Fotografie?

Für den Katalog „Fotofinish“, der aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Kunstsammlung der DZ-Bank erschienen ist, habe ich einen Beitrag über konzeptuelle Fotografie verfasst. Er ist im Folgenden komplett publiziert:

IMG_0354-960x600Sentimentale Bürokraten. Beschämte Aristokraten – oder: Wer betreibt konzeptuelle Fotografie?

Künftig werden sich Künstler, sofern es sie dann überhaupt noch gibt, von anderen Menschen darin unterscheiden, dass sie keine Bilder machen. Zumindest aber werden sie sich von anderen dadurch unterscheiden, dass das Bildermachen für sie keine alltägliche Sache ist. Da die Digitalisierung dazu führt, dass erstmals in der Geschichte der Menschheit kein Mangel, sondern ein Überfluss an Bildern herrscht, verändert sich vielmehr die Rolle und das Selbstverständnis von Künstlern: Sie müssen nicht den Mangel zu mindern, sondern den Überfluss zu bewältigen versuchen. Dieser wird umso größer und das Bildermachen umso mehr eine Alltagspraxis für viele Menschen, als es dank der Smartphone-Technik und zahlreicher Apps der Bildbearbeitung keiner besonderen Begabung mehr bedarf, um visuelle Qualitätsstandards zu erfüllen und mit Bildern jeweils genau das Gewünschte auszudrücken.

Man wird künftig auch mit anderen Erfahrungen und Erwartungen auf die Entwicklung der Kunst zurückblicken – und wird insbesondere in der Geschichte der Fotografie bereits Vorstufen des neuen Zeitalters der Bilder erkennen. Immerhin war die Fotografie die erste Bildtechnik, bei der sich die Bildproduktion, zumindest nachdem für Amateure konzipierte Fotoapparate entwickelt und industriell hergestellt worden waren, von spezifischen bildnerischen Fähigkeiten und Begabungen zu entkoppeln begann. Der berühmte Slogan von Kodak aus dem Jahr 1888 „You press the button, we do the rest“ mochte eine werbetypische Übertreibung gewesen sein, da der damalige Fotograf noch allerlei, von der Belichtungsmessung bis zur Entfernungseinstellung, zu tun hatte, bevor vielleicht ein passables Bild entstehen konnte, aber er nimmt als Idee bereits vorweg, was sich erst bei Smartphones wirklich erfüllt (die daher mindestens so sehr Smartcameras sind).

Das philosophische Pendant zu jenem Werbeslogan stammt von Vilém Flusser und ist fast ein Jahrhundert jünger. 1983 stellte er die These auf, der Fotoapparat sei „programmiert, Fotografien zu erzeugen, und jede Fotografie ist eine Verwirklichung einer der im Programm des Apparates enthaltenen Möglichkeiten“. Deren Zahl sei zwar sehr groß, aber „dennoch endlich“, genauso wie die Zahl möglicher Züge beim Schachspiel. Ein Fotograf versucht, die im Apparat „noch unentdeckten Möglichkeiten ausfindig zu machen“; er ist letztlich nicht der Produzent der Bilder, sondern „Funktionär“ des Apparats.[1] Zwar mag es neben etlichen engagierten viele einfallslose Funktionäre geben, aber selbst letztere können dank der Programmiertheit der von ihnen benutzten Apparate gute Fotos machen.

Das von Flusser vertretene Verständnis von Fotografie legt zugleich nahe, dass die Tätigkeit von Fotografen, die sich als Künstler verstehen, gerade nicht im Fotografieren bestehen kann. Denn soweit auch sie dazu Apparate brauchen, sind sie keine autonomen Bildschöpfer. Sie sind überhaupt keine Urheber, sondern führen lediglich Programme aus, die andere entwickelt haben. Selbst wenn sie den Apparat zu überlisten versuchen und gegen seine Funktionalität verwenden, bleiben sie auf die in ihm liegenden Möglichkeiten beschränkt, entdecken also höchstens weitere, bisher unbemerkte Dimensionen seines Programms. Als autonom können sie sich hingegen behaupten, wenn sie ihrerseits ein Programm entwickeln, das aber, da sie keine Ingenieure und Informatiker sind, nicht zur Produktion neuer Bilder, sondern zum möglichst originellen und sinnvollen Umgang mit bereits vorhandenen Bildern dient. Sie müssen also Konzeptkünstler werden und Methoden finden, anders als andere mit Bildern umzugehen.

Da sich Flusser mit seinen Überlegungen allein auf Knipser und Berufsfotografen, nicht jedoch auf Foto-Künstler bezieht, gibt es bei ihm selbst keinen Hinweis darauf, dass letztere dann am konsequentesten handeln, wenn sie gar nicht mehr fotografieren, sondern sich Fotografien ausschließlich konzeptuell widmen. War seine Theorie also nicht als Legitimation für den künstlerischen Gebrauch von ‚found footage’ gedacht, so liefert sie diese jedoch erst recht angesichts der digital gewordenen Fototechnik. Nun ist es kein ungewöhnlicher Sprachgebrauch mehr, einen Fotoapparat als programmiert zu bezeichnen; vielmehr ist eindeutig, dass die Bilder das Resultat von Softwareprogrammen sind, bei denen manchmal sogar fotografische und grafische Effekte kombiniert werden. Künftig wird man fotografische Bilder zudem vielleicht vermehrt in 3D-Artefakte übersetzen, aber auch sonst mehr und mehr herkömmliche Werktypen – von der Malerei bis zur Holzschnitzerei – digital substituieren. Nach den Fotografen werden dann genauso andere Sparten von Künstlern dazu gebracht, ihr Selbstverständnis zu verändern, um sich nicht nur als Programmanwender empfinden zu müssen. Sie werden generell zu Experten darin, aus Vorhandenem allein durch Auswahl, Kombinatorik und Veränderung etwas Neues zu machen und so dem Überschuss an programmiert produzierten Dingen ordnend, sinn- und erkenntnisstiftend zu begegnen.

Allerdings bleibt die Frage offen, wie der Rollenwechsel einzuschätzen ist, der sich vollzieht, wenn nicht länger Bilder und Artefakte, sondern Konzepte – Programme zur Organisation von Programmiertem – geschaffen werden. Sind die Konzepte bloß ein Ersatz, der früher oder später infolge einer sukzessiven Ausweitung von Programmen auf Auswahl- und Anordnungsverfahren seinerseits keine Distinktionskraft mehr für Künstler besitzt? Oder sind sie ein Fortschritt, da sie künstlerische Tätigkeit endgültig über alles Handwerkliche und über körperliche Arbeit erheben und intellektualisieren?

Eine Vorstellung davon, was es bedeutet, die Konzeptualisierung künstlerischer Tätigkeit als Fortschritt zu begreifen, vermittelt Boris Groys in seinem 1998 für den Sammlungskatalog der DG BANK publizierten Aufsatz „Das Versprechen der Fotografie“. Generell beschreibt er den Fotografen darin in Differenz zum traditionellen Maler, vor allem aber zum Arbeiter, der in physischer Verbindung zu dem steht, was er produziert. So finde die Tätigkeit des Fotografen „entkörpert“ statt, sie „wird zum reinen Blick, der nicht mehr ‚arbeitet’, sondern nur noch entscheidet, auswählt und kombiniert“. Damit aber rücke der Fotograf „in die Nähe der Verwaltung, der Planung, der Führung – und schließlich in die Nähe des Konsums“. Der Weg des Künstlers vom Arbeiter zur Führungskraft, die „von der Chefetage aus“ auf die Welt blickt, ist eindeutig ein Fortschritt: Erlöst von schnödem Produktionszwang, ist „seine eigentliche Aufgabe […] das Blickdesign“; er bietet „weniger bestimmte Bilder als vielmehr die Strategien ihrer Auswahl“.[2]

In einer späteren Version seines Texts, die zuerst im Katalog zur 2002 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt veranstalteten Ausstellung „Shopping – 100 Jahre Kunst und Konsum“ publiziert wurde, widmet sich Groys noch stärker dem Wandel des Künstlers vom Produzenten zum Konsumenten. Erst hier vollzieht er den Schritt, gerade auch den Fotografen als jemanden zu denken, der überhaupt keine eigenen Bilder mehr produziert, sondern der Logik des Readymades folgt, also bereits Produziertes auswählt und durch Arrangement und Kontextualisierung als bedeutsam würdigt oder sogar überhaupt erst semantisch auflädt: „Der Künstler entnimmt der Massenkultur, in der er lebt, Bilder und Objekte und verwendet sie für die Erschaffung eigener Räume – so wie es jeder Konsument auch tut“. „Schon seit Duchamp“ verstehe sich der Künstler „als ein exklusiver Konsument anonym produzierter und in unserer Kultur immer schon zirkulierender Dinge“, sehe sich also nicht mehr „am Ursprung“, sondern am „Ende“ einer Produktkarriere. Gerade daran aber zeigt sich nochmals der Fortschritt, den der Künstler vollzogen hat. Er muss „nicht mehr kreativ“, sondern darf „kritisch“ sein: entscheiden, auswählen, bewerten, ordnen, verwalten.[3]

Erlangen die Thesen von Groys genauso wie die von Flusser erst in der konzeptuellen ‚found footage’-Fotografie volle Evidenz, so lässt sich die Entwicklung hin zum Produktionsverzicht jedoch auch anders denn als Emanzipation und Aufstieg interpretieren. Schon 1956 diagnostizierte der Philosoph Günther Anders in seinem Buch Die Antiquiertheit des Menschen eine „prometheische Scham“. Demnach werde der Mensch in der industriellen Moderne „durch die Perfektion und die Multiplizität der von ihm gemachten Dinge ‚beschämt’“.[4] Sowohl die Maschinen und Apparate als auch das mit ihnen Produzierte erscheinen dem Menschen als ihm selbst überlegen. Er neigt deshalb dazu, so Anders’ These, sich in der Hoffnung auf Perfektionierung selbst zu verdinglichen, oder aber noch mehr Geräte zu entwickeln und noch mehr an sie zu delegieren. Doch muss, wer sich der eigenen Körperlichkeit in all ihrer Anfälligkeit schämt, nicht auch beschämend finden, was mit körperlicher Arbeit hervorgebracht ist? Und liegt es dann nicht nahe, selbst nichts mehr zu produzieren – aber nicht, weil man sich davon entlastet fühlt, sondern weil es als ungenügend erscheint?

Somit könnte die während des 20. Jahrhunderts unter Künstlern wachsende Beliebtheit von Readymades auch damit zu tun haben, dass es für sie infolge der perfektioniert-industriellen Massenproduktion problematisch wurde, selbst etwas zu produzieren; aus Scham über die Imperfektheit ihrer eigenen Artefakte begannen sie lieber Industrieprodukte wie Urinoirs oder Staubsauger zu verwenden und auszustellen. Und sie zogen es vor, Konzepte dazu zu entwickeln, da sie sich mit Gedanken viel weniger schmutzig zu machen glaubten als mit Material. Sind sie beim Auswählen und Anordnen von bereits Produziertem nämlich nicht weiterhin allen Geräten überlegen? Ist ihnen – um die Vokabeln von Groys aufzunehmen – das Kritisieren als Domäne nicht geblieben, während das Kreativ-Sein zunehmend fragwürdig geworden ist?

Allerdings müsste man im Fall der Fotografen, die keine eigenen Bilder produzieren, sondern ‚found footage’ verwenden, modifiziert argumentieren. Immerhin könnten sie ihrerseits technisch fabrizierte, durch einen Apparat programmierte Bilder machen. Aber sie müssen erkennen, dass sie das kaum besser können als viele andere und dass sie selbst dann, wenn sie sehr gute Fotografen sind, mit noch so vielen eigenen Bildern nicht gegen die Unmengen an Bildern ankommen, die von anderen produziert wurden und werden.

Abgesehen davon, dass der eigene Beitrag zu einer auf Hochtouren laufenden Bildproduktion als beschämend marginal empfunden werden kann, gibt es aber noch einen weiteren, vielleicht sogar stärkeren Grund dafür, dass Fotografen gleichsam a priori eine Spielart von ‚prometheischer Scham’ entwickeln können. So braucht ihnen nur bewusst zu werden, dass sie all die Bilder, die schon gemacht wurden, nicht nochmals machen können: Soweit Fotografien etwas zeigen, das tatsächlich einmal existiert hat (ein ‚Es-ist-so-gewesen’ verkörpern, um Roland Barthes’ berühmte Formel zu zitieren[5]), sind sie so wenig wiederholbar wie die Vergangenheit selbst. Jedem Foto ist vielmehr etwas zu eigen, das sich menschlicher Verfügungsmacht entzieht. Wer diese Überlegenheit des fotografischen Bildes empfindet (Roland Barthes bezeichnet dies ausdrücklich als seine „anstößige Wirkung“[6]), kann zwar einerseits dazu motiviert sein, selbst ebenfalls – möglichst viele – Fotos zu machen, kann andererseits aber auch – vor allem unter dem Einfluss des Überflusses fotografischer Bilder – zu dem Schluss gelangen, es sei angemessener, sich nur noch auf bereits existierende Fotografien zu beziehen und selbst nicht mehr zu fotografieren.

Passt eine solche Geste des Verzichts gut zu einem Gefühl der Beschämung, so mag es dennoch übertrieben wirken, die Verwendung von ‚found footage’ mit einer derart starken Empfindung zu erklären. Auch Anders musste sich gegen den Einwand verteidigen, dass sich wohl kaum jemand angesichts technisch produzierter Dinge explizit schäme. Er verglich die ‚prometheische Scham’ daraufhin mit der Scham, die ein Mensch mit einem Buckel empfindet. So lebe jener mit einer klaren Vorstellung davon, „wie Menschen eigentlich ‚zu sein haben’“, kann diesem Bild jedoch selbst, wohlgemerkt völlig unschuldig, nicht gerecht werden. Den Buckel erfährt er vielmehr als das seiner „Freiheit Entzogene, die Provinz des Fatums, des in jeder Hinsicht ‚Fatalen’, […] und aus dem Widerspruch zwischen der Freiheitsprätention und dem ‚Fatalen’, zwischen dem Können und dem Nichtkönnen, entspringt Scham“. Diese „schämt sich des Nichtkönnens“.[7]

So wie der Bucklige seinen Buckel nicht einfach abschaffen kann, kann jemand, der fotografiert, Vergangenes nicht wiederholen und die Überfülle an Bildern nicht negieren. Soweit er das nicht von sich erwartet, wird er auch keine Scham, sondern höchstens Ohnmacht angesichts des eigenen Nichtkönnens verspüren. Doch sofern er Künstler ist, hat er mutmaßlich höhere Ansprüche an sich und sein Tun, will mehr können als andere Menschen und Fotografen – und muss doch immer wieder feststellen, genauso determiniert zu sein wie sie. Es kommt somit zu einem Widerspruch zwischen der Schöpfungsprätention und dem Unvermögen, und daher ist auch genügend Raum für Schamgefühle vorhanden.

Die Auswahl und Aufbereitung von ‚found footage’ durch Künstler-Fotografen ist nicht zuletzt davon bestimmt, derartige Schamgefühle zu überwinden oder zu reflektieren. Ein Beispiel dafür bietet etwa die Werkserie Crime – Terror – Riots (2011) von Jochem Hendricks. Ihr liegen von der Polizei zwischen 1973 und 1985 verdeckt aufgenommene Ermittlungsfotos zugrunde, die Demonstrationen, Banküberfälle oder Räumungen besetzter Häuser zum Gegenstand haben. Zeigen sie somit jeweils markant einmalige Ereignisse, so versucht Hendricks dennoch das Unmögliche: Um den Fotos selbst nochmals eine einmalige Brisanz zu verleihen und ihre dokumentarisch-historische Einmaligkeit zumindest herauszufordern, wenn nicht gar in den Schatten zu stellen, ließ er sie von einer Frau, Magdalena Kopp, abziehen, die zu der Zeit, als sie entstanden, selbst politisch im Untergrund aktiv und einige Jahre sogar die Ehefrau des Terroristen Carlos war. Sie verkörpert die Gegenwirklichkeit zu den staatlichen Ermittlern, die die Fotos ursprünglich aufnahmen, und durch sie wird Hendricks’ Konzept zu einem Akt der Selbstbehauptung angesichts der Ohnmacht gegenüber der auf ihnen fixierten Vergangenheit. Doch so sehr Hendricks wünschen mag, die eigene Begrenztheit als Fotograf zu überwinden, so wenig ist den Abzügen anzusehen, wer sie angefertigt hat. Damit bleiben die Fotos für die Betrachter gerade wegen ihrer historischen Einmaligkeit interessant; nur für den Fotografen-Künstler und Kenner der Hintergründe haben sie eine zusätzliche Dimension erhalten.

Greifen konzeptuelle Fotografen auf ‚found footage’ zurück, wählen sie fast immer Bilder aus, die bis dahin kaum bekannt und verbreitet waren und die oft anonym entstanden sind, zumindest aber von keinen berühmten Fotografen stammen. Es geht somit nicht darum, einen anderen Künstler zu würdigen oder gar als überlegen anzuerkennen. Vielmehr werden Werkformen entwickelt, die den technischen Charakter des Mediums ‚Fotografie’ herausstellen und die unerschöpfliche Menge an Bildern sowie die Einmaligkeit dessen, was diese jeweils zeigen, vergegenwärtigen. Damit aber bekennt der auswählende Fotograf eine Faszination gerade gegenüber dem, was er selbst nicht zu beeinflussen vermag. Scham ist dann nicht weit entfernt. Es verspürt sie, wer Eigenschaften oder Fähigkeiten bemerkt, die er bewundert und für sich selbst beansprucht, aber grundsätzlich nicht haben kann.

Manche Künstler gehen dann ins Monumentale und Erhabene, so als wollten sie ihre Faszination und ihre Scham noch eigens beglaubigen, letztere aber auch kompensieren. Teresa Margolles etwa stellte die 313 im Jahr 2010 publizierten Titelseiten der Mexikanischen Lokalzeitung PM zu einem großen Tableau zusammen. Dass es sich hierbei um Readymades, nicht nur um gefundenes Bildmaterial handelt und dass jede Seite ein eigenes Datum besitzt, verstärkt die dokumentarische Qualität der Fotos auf den Covers. Auf ihnen sieht man oft Opfer des Drogenkriegs, gleich daneben halbnackte Pin-Ups; dazu kommen schrille Schlagzeilen. Diese Mischung ist so obszön und drastisch, dass ein Künstler sie – und vor allem ihren Wirklichkeitsgrad – mit eigenen Sujets oder Kombinationen nie überbieten könnte. Dafür ist Margolles unermüdlich darin, an die tagtäglich geschehende, mit der nächsten Zeitungsausgabe aber schon wieder vergessene Gewalt zu erinnern. Indem sie möglichst viel sammelt und ausstellt, kann sie die Öffentlichkeit sensibilisieren und politische Aufmerksamkeit schaffen; sie muss sich nicht nur als ohnmächtig erleben.

Oriol Vilanova stellt dagegen riesige Tableaus aus alten Postkarten zusammen, die er meist auf Flohmärkten erwirbt. Sie sind nach Ähnlichkeiten hinsichtlich ihrer Themen, Farben und Bildkompositionen angeordnet, was den Eindruck erweckt, es bleibe keine Lücke; vielmehr habe man eine annähernd vollständige Sammlung vor sich, und selbst ein an sich bereits veralteter Bildtyp wie die Postkarte erfülle enzyklopädische Wissensansprüche. Dass der sammelnde Künstler das gesamte Postkarten-Universum zu rekonstruieren vermag, suggeriert Vilanova mit weiteren formalen Mitteln. So besteht die Werkgruppe Entre Guillemets (2016) aus Diptychen mit jeweils zwei Exemplaren desselben Postkartentyps. Meist sind sie unterschiedlich gut erhalten, haben jeweils andere Absender und Empfänger und weichen in Details voneinander ab. Doch signalisiert Vilanova damit, so viele alte Postkarten gesichtet zu haben, dass sich für ihn die Motive bereits wiederholen, er es also geschafft hat, die vermeintlich unübersehbare Menge auszuschöpfen.

Wird die Dublette hier zur Trophäe, so bekundet der Künstler damit auch Stolz und überwindet jede eventuelle Scham darüber, gegenüber der Vielzahl und Qualität fotografischer Bilder unterlegen zu sein. Der Stolz ist aber kein klassischer Werkstolz, wie ihn ein Maler oder Bildhauer empfinden mag, wenn er nach längerer Zeit und mit großem körperlichen und psychischen Einsatz ein Kunstwerk vollbracht hat, das von seinen besonderen Fähigkeiten zeugt. Eher ist es der Stolz auf eine organisatorische und bürokratische Leistung. Dass der Fotograf selbst keine neuen Bilder produziert, demonstriert dann, statt nur eine Verzichtsgeste zu sein, den Aufstieg von der physischen Arbeit zur konzeptuellen Tätigkeit, wie er von Groys beschrieben wird.

Dieser Aufstieg bedeutet nicht zuletzt Macht. Diese besteht aber nicht nur darin, dass der Künstler etwas auswählt, anordnet und in Szene setzt; vielmehr fungiert er als Künstler auch als Vorbild für andere. Sein Konsum wirkt stil- und geschmacksbildend, und das, was er auswählt und was bis dahin vielleicht unbeachtet oder vergessen war, erfährt nicht nur vermehrt Aufmerksamkeit, sondern vor allem eine Aufwertung. Aus beliebigen alten Postkarten, aus Boulevardzeitungen oder aus Fotos von Behördenarchiven werden Kunstwerke, was den Blick auf andere Bilder derselben und ähnlicher Gattungen ebenfalls verändert. Groys definiert den konsumierenden Künstler daher genauso wie als Bürokrat auch als Aristokrat. So sei lange Zeit der „aristokratische Gebrauch und Geschmack […] für die ganze Gesellschaft vorbildlich“ gewesen. Der Künstler ist also nicht nur vom Arbeiter zum Adeligen aufgestiegen, sondern in einer demokratischen Gesellschaft zudem an dessen Stelle getreten.[8]

Seine Macht beweist der Künstler am besten damit, dass er etwas nobilitiert, das sonst als besonders trivial, banal und niedrig gilt. Und er übt seine Macht dann auf aristokratische Weise aus, wenn seine Entscheidungen willkürlich sind und keine Rücksicht auf Konventionen oder Mehrheiten nehmen. Vielmehr sollte jedermann und jederzeit klar sein, dass der Aristokrat jedes beliebige andere Artefakt genauso hätte auswählen können.

Das aristokratische Machtspiel ist besonders gut bei Richard Prince nachzuvollziehen. Bei den Motiven aus der Werbung, den Autogrammkarten, Abbildungen aus Männermagazinen oder Fotos aus Instagram-Accounts, die er aufgreift, handelt es sich um ephemere und trashige Artefakte, denen meist sogar jeglicher kulturelle Wert abgesprochen wird. Aber es ist ihm auch nicht wichtig, mit den von ihm ausgewählten Bildern eine Idee von Sammlung oder gar von Vollständigkeit präsent zu machen; das Entdecken bisher verborgener Sujets und Bedeutungen interessiert ihn so wenig wie eine politische Botschaft. Das Besondere besteht bei seiner Auswahl also darin, dass es eigentlich keine guten Gründe dafür gibt. Zumindest dienen solche nicht dazu, eine empfundene Unterlegenheit und Scham zu kompensieren. Mit Scham wird vielmehr auf eine Weise umgegangen, die auch Günther Anders schon als Option beschrieben hat: Prince „versteckt“ sie, indem er sich ausdrücklich „unverschämt“ zeigt; in der nackten Machtdemonstration behauptet er eine Überlegenheit, die von jeder eventuellen Unterlegenheit ablenkt.[9]

Die wenigen Beispiele lassen bereits ahnen, in welch unterschiedlichen Verbindungen Ohnmacht und Macht, Scham und Stolz in die konzeptuelle Fotografie eingehen können. Im Extremfall entstehen bei den Künstlern daraus beschämte Aristokraten, häufiger hat man es mit stolzen Konsumenten oder mit faszinierten und demütig-sentimentalen Bürokraten zu tun, die einer Zeit nachtrauern, in der es noch keine Fotografie und dafür einen Mangel an Bildern gab. Dominiert bei ihnen das Eingeständnis der eigenen Begrenztheit, so bei anderen die Zuversicht, in vorhandenen Beständen ganz Neues entdecken zu können und damit etwas Besseres zu tun als herkömmliche Künstler, die nur längst Bekanntes nachahmen. Und wie noch nicht entschieden ist, ob die öffentliche Debatte einmal eher Groys oder eher Anders folgen wird, schwanken die meisten der hier beschriebenen Künstler selbst immer wieder und fühlen sich mal emanzipierter als ihre Vorgänger, mal diesen unterlegen.

Vielleicht wird die ‚prometheische Scham’ sich einmal als bloßes Übergangsphänomen erweisen und der Mensch künftig genügend Quellen haben, um sein Selbstbewusstsein zu stärken und sich den eigenen Artfakten gegenüber nicht unterlegen fühlen zu müssen. Vielleicht wird man es aber auch einmal als ziemliche Übertreibung ansehen, dass schon das Auswählen und Organisieren eine besondere schöpferische Tätigkeit sein soll, gleichbedeutend den Leistungen zur der Zeit, als Künstler produzierten statt zu konsumieren. Vielleicht wird man also zu der Einschätzung gelangen, dass das, was ‚found footage’-Künstler heutzutage machen, eher eine allgemein erlernbare Kulturtechnik denn eine spezielle Begabung exemplifiziert. Und wenn erst einmal nicht nur Fotoapparate und Smartphones programmiert sind, sondern genauso Programme und Apps existieren, um Bilder nach bestimmten Kriterien auszuwählen und aufeinander zu beziehen, werden Künstler, sofern es sie dann überhaupt noch gibt, vielleicht auch wieder anfangen, selbst Bilder zu machen.

[1] Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1983, S. 26ff.

[2] Boris Groys: „Das Versprechen der Fotografie“, in: Luminita Sabau (Hg.): Das Versprechen der Fotografie. Die Sammlung der DG BANK, München 1998, S. 26–33, hier S. 30.

[3] Ders.: „Der Künstler als Konsument“ (2002), in: Ders.: Topologie der Kunst, München 2003, S. 47–58, hier S. 49f.

[4] Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (1956), München 1994, S. 65.

[5] Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt/Main 1985, S. 87.

[6] Ebd., S. 92.

[7] Anders, a.a.O. (Anm. 4), S. 68f.

[8] Groys, a.a.O. (Anm. 2), S. 31.

[9] Anders, a.a.O. (Anm. 4), S. 29.

Als PDF gibt es den Beitrag hier: dz-bank_ullrich

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